„Alles Gute zu deinem Geburtstag“, sagte mir mein Sohn nach dem Kaffeetrinken am späten Nachmittag und hielt mir mit einem verschmitzten Lächeln ein zerknittertes 100 cm Maßband von IKEA hin. Als er merkte, dass ich ihn irritiert anschaute, meinte er schnell: „Spaaaßßß, das habe ich in meiner Winterjacke vom letzten Mal, als wir bei Ikea waren, gefunden“.  …. und schon war er wieder weg.

Mein Sohnemann ahnte gar nicht welche Freude er mir mit diesen alten Maßband gemacht hatte. Beim letzten Coaching mit Michael Strachowitz haben wir über die verfügbare Lebenszeit, die wir alle haben, gesprochen. Oft höre ich in meinem Ehrenamt als Sterbebegleitung, „Oh, Herr Konrad, das wollte ich doch noch alles machen. Erst war der Beruf, dann der Hausbau, Familie und die lang ersehnte Beförderung. Irgendwann habe ich meine Träume nach hinten verschoben, bis zu Rente. Dann kamen aber die Enkelkinder. Zum Schluss habe meine Träume und Ziele ganz einfach vergessen“. Vielen der Sterbenden fallen ihre Sehnsüchte und Wünsche erst wieder im Sterbe- oder Krankenbett ein. Dann ist es leider zu spät.

Also entschied ich mich kurzerhand das Experiment zu wagen. Es lagen 100 cm vor mir. Realistisch gesehen leben Männer in meinem Alter im Schnitt bis 84 Jahre. Ich nahm die Schere aus der Schublade und schnitt das Maßband an der „84“ ab. Oha, ein komisches Gefühl. Trotzdem dachte ich mir ist ja noch einiges von diesem Papierband übrig. Schnell wurde mir aber bewusst, dass mein 42. Geburtstag der Tag ist, an dem ich eigentlich auch den Schnitt bei der „42“ machen sollte. Ich zögerte den Schnitt einige Minuten heraus und versuchte mir einzureden, den Schnitt nicht machen zu müssen, denn ich bin ja heute zu dieser Person geworden, wie ich mich in der Vergangenheit verhielt, so gehört dieses ja zu mir. Es stimmt, aber ich wollte ja meine restliche Lebenszeit visualisieren. Der Schnitt musste daher sein… und mit einem Ruck war der Schnitt geschehen. Huh, das Maßband, sprich meine restliche sichtbare Lebenszeit, hat sich drastisch verkürzt.

Eine Zeit stillschweigend fielen mir die viele Fragen, die wir zuletzt in der letzten Coaching Sitzung besprochenen hatten, wieder ein.

Was möchte ich haben? Was will ich nicht mehr?
Wer bin ich? Was möchte ich sein?
Welche Rollen habe ich?
Was möchte ich hinterlassen?
An was sollen sich die Hinterbliebenen erinnern?
….
Welche Werte habe ich? Kann ich davon was weitergeben?
Was ist definitiv mein „WARUM“?
…..

Ich nahm mein Journal und fing auf alle Fragen meine Gedanken aufzuschreiben.

Als ich den Stift zur Seite legte, merkte ich erst, dass es in meinem Arbeitszimmer dämmrig wurde. Das leere Buch hatte Inhalt bekommen, so dass ich anfing dieses Geschriebene nochmals lesen und eventuell Korrekturen vornehmen wollte. Da kam mein Hund ins Zimmer, legte sein Kopf auf meinen Oberschenkel, schaute mich an, als ob er sagen wollte: „Alter, lass gut sein, es ist alles gut wie es da steht und komm wir laufen der Abendsonne entgegen.“ Er hatte Recht, ich stand auf und ging nach unten. Dort angekommen, wartete meine Frau mit der Hundeleine in der Hand und mein Sohn meinte: „Papa, wir wollten schon mit dem Hund Gassi gehen, du hast ja noch gearbeitet“. „Alles gut“, meine ich, und streifte ihn über den Kopf und wir gingen gemeinsam dem Sonnenuntergang entgegen. Da fiel mich noch eine Frage ein.

Wofür bin ich dankbar?

Dankbar bin auf alle Fälle für meine Familie, für das Dach über meinen Kopf, meiner Gesundheit und dass ich frei bin selbst zu entscheiden, was ich machen möchte. DANKE.